Madlaina ist Krankenschwester, die ich in der Schweiz kennengelernt habe. Er beschloss, für drei Monate auf Lesbos, einer griechischen Insel in der Nähe der türkischen Grenze, zu reisen.
In den letzten Jahren sind Boote voller Menschen an den Ufern von Lesbos angekommen, hauptsächlich aus dem Nahen Osten. Im Laufe der Zeit und nachlässig wurden baufällige Felder am Rande des Überlebens angelegt.
Über die Medical Volunteers International Association arbeitet Krankenschwester Madlaina in einem kleinen Krankenhaus und im Flüchtlingslager Moria, das zum größten in Europa geworden ist.
Dies ist die Geschichte dessen, was er erlebt hat:
„Ich arbeite in einer kleinen Gesundheitsklinik. Sie befindet sich in einem Community Center etwa 1h Fussweg vom Flüchtlingslager Moria entfernt. Das Lager sollte ursprünglich maximal 3000 Menschen aufnehmen, aber jetzt leben hier über 19.000 Menschen. (Stand Mitte Januar 2020). Zu zwei Dritteln sind es Familien. 34% aller Migranten im Camp sind Kinder. Über 10.000 Menschen leben außerhalb der offiziellen Zäune in einem unorganisierten Labyrinth mit Behausungen aus Zelten, Plastik, Zweigen, Schrott und Holzpaletten. Manche müssen auch im Freien übernachten. Das völlig überfüllte Lager wächst immer weiter in den Olivenhain hinein. Man nennt dieses chaotische Zeltlager hier „the jungle“.
Es gibt im ganzen Camp viel zu wenig sanitäre Anlagen. Viele haben keine Möglichkeit ihre Kleidung zu waschen, ausser mit kaltem Wasser von Hand. Geschweige denn sich warm zu duschen. Dies bei Wintertemperaturen Tag und Nacht.
Es weht stets ein eisiger Wind hier. Immer wieder sehe ich Menschen in Flip Flops, Sandalen oder Badeschlarpen. Auch Babies! Sie haben keine Schuhe. Ja nicht einmal Socken. Manche haben nicht einmal einen Schlafsack. Sie liegen in eine dünne Decke gehüllt auf dem nackten Zeltboden.
Sie besitzen nichts ausser der Kleidung, welche sie am Laibe tragen. Der Grossteil der Patienten, welche in die Klinik kommen in der ich tätig bin, klagt über Schmerzen am ganzen Körper. Kein Wunder, wenn man 24h am Tag in der Kälte ausharren muss und auf dem Boden schlafen muss. Die allermeisten können sich nicht einmal mit einer Tasse heissem Tee wärmen – denn sie haben keine Möglichkeit Wasser zu kochen.
Der Abfall türmt sich, es hat Ratten und andere Tiere, es riecht mancherorts stark nach Fäkalien. Innerhalb der Container gibt es Toiletten und Duschen. Beides im selben Raum. Nicht grösser als eine Besenkammer. Hinten das Plumpsklo und vorne ein Schlauch, aus dem kaltes Wasser kommt.
Oftmals Fäkalien am Boden. Spüle und Türverriegler kaputt. Hier soll man sich in der Kälte duschen? Seine Kinder duschen?.. Unter diesen miserablen Hygienezuständen hat sich die Krätze ausgebreitet. Tagtäglich kommen etwa 10 Patienten mit Krätze, welche berichten, dass in ihrem Zelt noch 4-5 andere Menschen darunter leiden. Sie können nicht adäquat behandelt werden.
Die staatliche Einrichtung, welche für die Behandlung zuständig ist, schickt die Leute mit immer wieder neuen Terminen weg, weil schlichtweg die Kapazität fehlt. So kommt es, dass die Leute alle paar Tage 2-3 Stunden anstehen. Nur, um abermals mit einem weiteren Termin vertröstet zu werden. Viele kratzen sich wegen des unerträglichen Juckreizes mit der Zeit wund. Durch die schlechten hygienischen Bedingungen infizieren sich die Wunden rasch und breiten sich über den ganzen Körper aus. Nun hat man nebst dem Juckreiz auch noch sehr schmerzhafte Eiterwunden dazu. Schrecklich!
Ich arbeite teilweise auch innerhalb des Camps in einer Klinik. Sie wird 6 Tage die Woche von 2 NGOs am laufen gehalten von morgens bis abends spät.
Während der Schichten sind immer wieder Unruhen draussen zu hören. Schreie. Menschen mit Messerstichverletzungen sieht man sehr häufig. Vor allem ein Abend ist mir in Erinnerung geblieben. Ein junger Mann mit zahlreichen Messerstichverletzungen wird hereingetragen. Er wurde von fünf anderen Männern niedergestochen. Seine Schwester musste es mitansehen. In der Klinik angekommen erlitt sie eine Panikattacke. In dieser Schicht konsultierte ich drei Patienten mit genähten Stich- und Schnittverletzungen, einen Jugendlichen mit selbst zugeführten Schnittwunden am ganzen Bauch, einen Mann mit Nasenbluten wegen einer Schlägerei. All das innerhalb einiger Stunden.
Immer wieder höre ich Erzählungen von grausamer Folter. Von Bombenattentaten, Schiessereien, öffentlichen Köpfungen, Leichen auf den Strassen. Einfach unvorstellbar, was manche Menschen aushalten mussten. Und trotz all der Last haben sie den beschwerlichen und gefährlichen Weg hierher geschafft. Die Flüchtlinge berichten von Verlust von Familienmitgliedern, Gefangenschaft, Menschenhandel, Demütigung, tagelangen Fussmärschen mit Hunger und Durst. Sie haben ihre Heimat mit all den Habseligkeiten verlassen müssen. Und nun sind sie in Moria gestrandet. An einem menschenunfreundlichen Ort, in dem totales Chaos herrscht. Nächtliche Kravalle sind an der Tagesordnung. Man kann seine persönlichen Gegenstände nicht vor Diebstahl schützen. Sexueller Missbrauch geschieht einfach ungestraft. Es gibt keine Polizeipatrouillen im Lager. Straftaten jeglicher Art werden nicht geahndet. Seit Beginn des Jahres 2020 haben schon zwei Menschen durch eine Messerstecherei ihr Leben verloren. Moria ist kein sicherer Ort!
Überbevölkerung, Kälte, Frustration, unzureichende medizinische Versorgung (v.a. unzureichende psychologische Unterstützung für alle Menschen mit Traumata oder anderen schwerwiegenden psychiatrischen Problematiken wie beispielsweise Psychosen!), Schutzlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Ungewissheit über die Zukunft, über den Verbleib der Angehörigen,.. All diese Dinge führen im Endeffekt dazu, dass die Situation zwangsläufig eskaliert. Eine weitere Folge nebst den Kämpfen gegeneinander sind Suizide und Selbstverletzungen. Sogar von Kindern.
Nach Ankunft auf der Insel werden die Menschen registriert. Sie bekommen einen Termin für das Interview. Dann werden sie sich selbst überlassen. Vor dem Interview haben sie keine Chance ihre Situation irgenjemandem zu erklären. Ob sie asylberechtigt sind oder nicht, entscheidet sich nach dem Interview. Die Menschen hier müssen aber monatelang auf ihr Interview warten. Ich habe mit einer jungen Frau gesprochen. Nach monatelangem Warten ist endlich der Tag des Interviews gekommen. Aber dann hiess es, der Termin wird verschoben. Ohne Begründung. Auf August 2020. Das heisst für sie: 8 weitere Monate warten in Ungewissheit! Ich habe mit Leuten gesprochen, die schon über ein Jahr lang am warten sind. Während dieser Zeit leben sie in Moria. Einem Dschungel aus Zelten, Plastik, Zweigen, Schrott und Holzpaletten. An einem sehr gefährlichen Ort. Ohne jeglichen Schutz!
Madlaina, ehrenamtliche Krankenschwester auf der Insel Lesbos, Griechenland, 26.01.2020
Wo hat Europa Ihr Friedensnobelpreis verlassen?
Die Proteste gegen diese Lager nehmen zu. Seit Mitte Januar gab es drei Demonstrationen in der Hauptstadt der Insel Mytilini und einen Protest vor dem Eingang zu Moria.
Die Polizei setzte Tränengas ein, einige Demonstranten wurden festgenommen.
Madlaina erzählt mir immer wieder auf Whatsapp, was wir dachten, dass es in Europa nie passieren könnte:
„Die Situation hier ist gegen jegliches Menschenrecht! Migranten werden inhaftiert ohne Grund. Nicht nachvollziehbare Asylentscheide und Deportationen in die Türkei. Kaum Zugang zu Rechtsberatung oder staatlicher Gesundheitsversorgung. Keine Hygiene. Kein Schutz. Ob schwanger, krank, minderjährig, Kleinkind. Absolut keine Sicherheit! Leute trauen sich nachts nicht zur Toilette zu gehen. Eine Fam. war gestern in der Klinik: sie wurden schon 2x ausgeraubt nachts in ihrem Zelt. Ein 3 jähriges Kind, die Frau im 8. Monat Schwanger.
Heute ist die Situation erneut eskaliert. Die Proteste gingen abends im Lager weiter. Ich hatte Spätschicht in der Klinik im Lager und wir mussten wegen Unruhen schliessen und wurden evakuiert. Ich war auch bei der Demo am Nachmittag. Die Polizei hat gegen alle Tränenfas eingesetzt. Auch gegen Frauen und Kinder und gehen uns Helfer. Das macht die Menschen umso mehr wütend.. Ich glaube es wird in den nächsten Tagen noch viel schlimmer kommen. Die Menschen hier sind verzweifelt..
Wenn die Europäische Union wirklich vereint wäre, würden die 28 Länder, die Teil der Europäischen Union sind, die 19.000 Migranten des Lagers Moria neu verteilen und sie somit für jede Nation auf 685 bringen. Ohne die Tatsache zu berücksichtigen, dass sie vor einigen Jahren viel weniger waren.
Opportunismus, mangelnde Zusammenarbeit und kein Zweck Einheit zeigen immer mehr ihre zerstörerischen Wirkungen: Sie provozieren schreckliche Realitäten, parallel zum Leben der europäische Gesellschaft.
Es sind die Entscheidungen, die bestimmen, was wir erleben.
Migranten kamen hierher, um uns ein Grundprinzip verständlich zu machen: Es gibt keine Maßnahmen, die nicht zu einer Konsequenz führen. Wenn die Konsequenzen gleichgültig sind, werden sie zu anderen Problemen.
Es gibt kein praktischeres Beispiel als das von Migranten: Bomben wurden abgeworfen, Armut hat sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet und die Menschen sind gleichgültig geblieben. Die Folge ist, dass diese Menschen zu Migranten geworden sind.
Nachdem sie endlose Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatten, die Wüste durchquert hatten und mit einem unsicheren und überfüllten Boot, Trauma, Folter und getrennten Familien dem Meer zugewandt waren, gelang es ihnen, einen sicheren Ort zu erreichen.
Die Europäische Union, von denen einige ausgeschlossen waren, konkurrierte darum, wer am wenigsten, wenn überhaupt, begrüßte und wegschaute. Trotz alledem in Europa.
Bomben werden weiterhin abgeworfen und die Armut verbreitet, was zu einer unkontrollierten Einwanderung führt.
Von 3.000 im Lager Moria wurden sie in sehr kurzer Zeit zu 19.000 Menschen. Dies zeigt das Ausmaß des Problems.
Wir könnten für immer über das Thema Migranten sprechen oder uns dafür entscheiden, die Bedingungen zu bekämpfen, die die Menschheit dazu bringen, all dies zu leben.
Vergessen wir niemals, was unsere Gegenwart geschaffen hat.